"In die Hände kannst Du es nicht nehmen." ? Helfer Helfer zu haben ist wichtig. Um wieviel mehr für Behinderte, die den Ausfall von Körperfunktionen zu bewältigen haben. Das Bewältigen dieser Ausfälle, das Zurückholen und Retten einer lebenspraktischen Wirklichkeit in die lebendige Gegenwart ist gerade die Aufgabe, bei der Helfer mitwirken dürfen. Die von mir begleitete Bewohnerin berichtet, wie in Folge Ihrer Multiplen Sklerose (MS) Sinneswahrnehmungen zurückgehen. Sie ist fast blind und immer häufiger auf die Sinneswahrnehmungen ihrer Helfer und Begleitpersonen angewiesen, auf zuverlässige Informationen darüber, was sie an Ihrer Stelle sehen, was sie tasten, was sie fühlen. Die Eindrücke müssen ihr sprachlich mitgeteilt werden. Dabei ist ihr Wissen und die Richtigkeit Ihrer Entscheidungen von der Genauigkeit dieser Mitteilungen abhängig. Es tut not, sich als Begleitperson immer wieder erneut daran zu erinnern: Es sind nicht etwa Entscheidungen, die die Bewohnerin nicht treffen könnte, sie kann das so gut, wie jeder andere auch, ihr fehlen lediglich die Sinnesdaten hierfür. Hier ist es nur all zu leicht möglich, schnell in eine bevormundende Rolle hinein zu rutschen, indem Bewertungen und sinnliche Eindrücke nicht genau auseinander gehalten und genau mitgeteilt werden. Es ist schon nicht einfach, sich selbst all der sinnlichen Eindrücke gewahr zu werden, die für eigene Entscheidungen eine Rolle spielen könnten, umso mehr muss dies für Entscheidungen gelten, die Andere treffen. Wichtig ist, das zuverlässige Berichten der Wahrnehmungen. Es gibt wohl kaum einen Bereich, wo Scheitern und Gelingen von Hilfe so nah beieinander liegen, wie hier. Viel zu leicht bin ich bereit, fremde Angelegenheiten in eigene Hände zu nehmen, meine Maßstäbe zu allgemeinen zu machen. Doch wenn es sich bei Hilfe um ein wechselseitiges, geradezu zwischenleibliches Wirken handelt, muss es in einem gewissen Einklang stehen. "In die eigenen Hände kannst Du es nicht nehmen", sagt die Bewohnerin. Dieser Satz macht einiges klar. Er zeigt, dass es sich bei dem Vorgang des Helfens um etwas nicht Verfügbares in mehrfacher Hinsicht handelt, denn Hilfe kann keiner in die eigenen Hände nehmen. Es ist das Verhältnis von mindestens Zweien. Unverfügbar ist schon das Geben der Hilfe, denn sie muss veranlasst und gefragt sein. Ungefragtes kann man nicht beantworten. Da in dem Bedürfnis der einen Seite die Gelegenheit und die Ermöglichung eines angebrachten Tuns für die andere liegt, steht dem Wagnis des Helfens immer ein gleichwertiges Wagnis zur Nachfrage und zur Annahme der Hilfe gegenüber. Beide Wagnisse müssen sich nicht nur in der gleichen Zeit, sondern auch in einer einheitlichen Situation treffen. Keines dieser Wagnisse geht vor oder nach, keines hat Vorrang, denn sie stützen sich wechselseitig. Es ist ein überraschendes gemeinsames Erlebnis, wenn dieses Wechselspiel gelingt. Durch Nähe ergibt sich ein Zusammenstehen. Dieser Vorgang vollzieht sich gerade in der Abwesenheit von Nutzen und Erkenntlichkeit, denn in einem solchen Zirkel würde Hilfe sofort zunichte. Wenn also im eigentlichen Sinne gar nichts gegeben oder empfangen wird, ist Helfen ein äußerst erlebnisreiches, gemeinsames Geübtwerden durch die verkörperten Umstände und unvorhersehbaren Bedingungen einer Wirklichkeit. Es ist ein kreativer Vorgang der Selbstentbindung, in dem sich ein gemeinsames Werden findet. Hilfe wird möglich durch die Freiheit in einer besonderen Weise des Tuns. Das Gelingen dieses gemeinsamen Geübtwerdens zeigt sich zwar auch in einer entsprechenden Routine, die "man schließlich hat". Aber um hilfreich zu sein, darf ich in meiner Weise auch frei bleiben für das Unvorhersehbare. Helfen besteht damit auch darin, ein besonderes Verhältnis zur Zeit zu haben. Sich Zeit zu lassen und diese grundlos zu teilen, obwohl man sie eigentlich nicht hat, weil man über sie nicht verfügt, ist Kennzeichen der Hilfe. Die Bewohnerin berichtet immer wieder, welch ein wohltuendes Erlebnis es ist, wenn sich Pflegerinnen angesichts plötzlich auftauchender, unerwarteter Schwierigkeiten bei einzelnen Pflegemaßnahmen Zeit mit ihr lassen. Das zeigt, dass auch professionelle Hilfe, obwohl sie geplant und fest eingeteilt werden muss, frei sein kann für diese außerordentliche Lebens-Erfahrung. Diese Offenheit innerhalb eines professionellen Betriebs wie dem Eduard-Knoll-Wohnheim gehört zu den bewundernswerten Besonderheiten eines Alltags. Es ist eine paradox anmutende Erfahrung, dass Zeit geben gar nicht vom Zeit haben abhängig ist. Wege müssen nicht vorgegeben sein, sondern können auch im gemeinsamen Gehen entstehen. Was ich als ein Experiment nannte und die Bewohnerin als ein Abenteuer bezeichnet hat, könnte möglicherweise ein Joint Venture unserer gemeinsamen Bewegungsmöglichkeiten werden. Die Bewohnerin hat noch einige weitere freiwillige Helfer. Eine Frau besucht sie regelmäßig seit acht Jahren und hilft ihr bei Erledigungen, schreibt Briefe, macht Einkäufe, holt Quittungen von der Apotheke und vieles mehr. Helge, der Porschefahrer, besucht sie ebenfalls seit einigen Jahren regelmäßig, hat ihren Computer eingerichtet und auch schon einige Ausfahrten mit ihr unternommen. Durch deren Verlässlichkeit und Ausdauer wird ihr Leben erheblich erleichtert. Betreuung baut auf Treue. Im Verhältnis zu den fundamentalen professionellen Hilfsleistungen, die durch die Pflegerinnen des Behindertenwohnheimes erbracht werden, stellen freiwillige Helfer eher kleine Vervollständigungen und Abrundungen dar. Aber in der Begegnung beider Personenkreise liegt auch hier eine Chance, die Leistungen des Pflegepersonals, die in der Regel einer Öffentlichkeit verborgen bleiben, in ihrer Wichtigkeit und Bedeutung angemessen wahrzunehmen und in Bezug auf die Qualität wertzuschätzen. Nachdem ich mir vor allem durch Erzählungen der Bewohnerin sowie durch Eigenbeobachtungen einen kleinen Einblick hierin bekommen habe, stellen Gemeinschaftsveranstaltungen wie eine Weihnachtsfeier im Eduard-Knoll Wohnheim eine kaum vorstellbare Koordinationsleistung und Choreographie von hunderten einzelner Pflegemaßnahmen dar, die alle in menschlicher Weise im Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse der Heimbewohner erbracht werden müssen.