Eine Frage der Eigenbewegung Was einem passieren kann, wenn man seine Bewegung ändert, habe ich vor wenigen Tagen erfahren, als ich mit eine Bewohnerin des Eduardt-Knoll Wohnzentrums während ihres Einkaufs in die Kreisstadt Künzelsau begleitete. Da Sie an M-S erkrankt ist, benutzt sie einen Elektro-Rollstuhl. Sie verfügt zudem nur noch über einen geringen Teil ihres Sehvermögens und ist vor allem in fremder Umgebung in ihrer Orientierung erheblich eingeschränkt und auf Hilfe angewiesen. Wir begannen den Stadtrundgang am Wertwiesen-Parkplatz und steuerten durch die holprigen verwinkelten Gassen der Altstadt, die den Rollstuhl recht durchschüttelten, zuerst den Drogerie-Markt an. Hinter der gläsernen elektrischen Schiebetür, die wir mit Mühe gerade noch passieren konnten standen wir da eingezwängt zwischen engstehenden, bis auf den letzten Platz gefüllten Regalreihen, die dem Elektrorollstuhl höchstens noch einen Spielraum von 10 cm gaben. Unmöglich, hier ohne anzustossen weiter zu kommen. Ich war ja eigentlich schon froh, dass die Glastüre heil geblieben war. Also ließ ich meine Begleiterin im Eingangsbereich des Geschäfts zurück und besorgte ihre Einkäufe. Nur mit großer Mühe kamen andere Kunden des Geschäfts am Rollstuhl vorbei. Nach aufwendigem Rangieren kamen wir wieder heil heraus. Ich war vorher noch nie mit den Bewegungsmöglichkeiten eines Rollstuhl konfrontiert, aber jetzt musste ich mich hier hineindenken, denn es war klar, das ich vor allem, wenn es eng wurde, für meine Begleiterin wegen ihres geringen Sehvermögens die Steuerung ihres Rollstuhles zu übernehmen hatte. Die Bedienung erschloss sich mir erst nach und nach, während ich neben herlaufende den Joystick des Steuergeräts bediente. Meine Begleiterin machte wohl ähnliche haarstäubende Erfahrungen wie ein Fahrlehrer bei der ersten Fahrstunde eines neuen Fahrschülers, doch sie klagte nicht. Obwohl der Fahrkomfort sehr mäßig war, weil ich zunächst Geschwindigkeitsbereiche falsch auswählte und dadurch das Beschleunigen und Abbremsen sehr ruckartig erfolgte, war sie sehr geduldig und nachsichtig mit mir. Also machte ich mir die Rollstuhlperspektive nach und nach zu eigen, versetzte mich in diese Sicht und in diese Bewegungsmöglichkeit hinein, passte meine Bewegungen selber an, um gut um Hindernisse herum zu kommen. So kam es mir schliesslich fast so vor, als ob ich selber im Rollstuhl säße, obwohl ich doch eigentlich nur neben ihm her ging. Leicht wird man sich wohl vorstellen können: Ich habe diese Stadt mit völlig anderen Augen gesehen. Entlang der neu ausgebauten Hauptstrasse, durch die sich immer noch ein starker Autoverkehr bewegt, wurde mit baulichen Maßnahmen, Steinquardern, und sogar einem Wasserlauf versucht, die Erlebnisqualität im Stadtzentrum zu heben. Das erhöht aus Rollstuhl-Sicht die Schwierigkeiten beim Manövrieren erheblich. An vielen Stellen ist ein gutes Durchkommen kaum möglich und der Gehweg gleicht einem Hindernis-Parcours. Aber daß mir nun eher die Hindernisse eher auffallen würden, war ja eigentlich zu erwarten. Doch es veränderte sich mehr. Während sich meine Wahrnehmung und Aufmerksamkeit der neuen Weise meiner langsameren und eingeschränkteren Fortbewegung anpasste, erschienen in meinem Blickfeld immer mehr Personen, die ebenfalls gehbehindert, hinkend, mit Rollator oder auch mit Rollstuhl unterwegs waren. Sie fielen mir auf, weil es nun mir ebenso schwer fiel wie ihnen, sich gewandt und wendig durch die Strassen zu bewegen. Nie zuvor sind mir in dieser Stadt so viele Personen mit Gehbehinderung aufgefallen! Fast schien es mir so, als könne ich in fast jeder Blickrichtung irgend eine alters- oder krankheitsbedingte Beschränkung des Gehens ausmachen. So viele schleppten sich dahin. Es war phänomenal. Allein weil ich mich nun anders bewegte, erschien mir meine Umwelt ebenfalls verändert. In meiner sonst gewohnten schnellen Gehweise mit einem trainierten und funktionsfähigen Körper waren viele Personen mit eingeschränkter Bewegungfähigkeit schlicht aus aus meinem Wahrnehmungsfeld herausgefallen, einfach unsichtbar geworden, weil ihre Bewegungsweise einfach ganz und gar nicht der meinen entsprach. Ich erlebte also eine Korrektur meiner Perspektive und hierdurch eine Veränderung meiner Wahrnehmung. Das Erkennen von Neuem braucht eine neue Perspektive und eine Veränderung des Wahrnehmungsschemas. Eine neue Perspektive entsteht durch neues Handeln. Indem ich meine Perspektive verändert hatte, konnte ich neues erkennen. Gleichzeitig erfuhr ich eine Gemeinsamkeit besonderer Art. Wir bewegten uns durch die Stadt. Da die Bewegung Umgebung und Leib vermittelt, ergab sich auch eine neue Gemeinsamkeit im Dialog. Es gab Situationen und Bedeutungen. Ich nehme mir vor, mich vorbehaltsloser neuen Situationen zu überlassen. Indem ich mich gebrauchen lasse, erfahre ich Neues. Mein Experiment mit der Wirklichkeit, so wie mein inoffizieller Arbeitstitel der Idee mit dem Engagement im Behindertenheim lautete, zeigt erste Neuigkeiten. Der Einkaufsausflug mit der Bewohnerin und ihrem Rollstuhl nahm dann ein gutes Ende. Tage später frage ich Sie nach Ihrer Mannöverkritik. Ja, einen typischen Anfängerfehler hast du gemacht, eröffnete sie mir humorvoll. Während Du den Rollstuhl gesteuert hast, hast du nicht darauf geachtet, wie ich sitze. Sitzen sei nämlich überhaupt keine Selbstverständlichkeit, wie man normalerweise glaubt und Balance sei immer eine Leistung. Gerade das Sitzen werde als Passivität verkannt. Es sei auch mehr als nur ein aktives Aufrechthalten des Oberkörpers. Es gleiche eher einem Tanz um das Finden einer Mitte, in die man seine Aufmerksamkeit zentrieren würde. Dabei würde Lebendigkeit gelockert in der Spannung gehalten. Wenn man einen Rollstuhl benützt, so sei Sitzbalance das wesentlichsten von allem und zugleich das schwierigste. Denn für das Halten der Balance stehen ja nicht die Beine zur Verfügung. Deshalb müsse man möglichst vorausschauend fahren und den Weg geradezu entwerfen, auf dem einem die Balance möglich erscheine. Wenn man sich also die Benutzung eines Rollstuhls vorstellt, als ein einfaches Sitzen im Rollstuhl, würde man das schwierigste gerade ausblenden. Das von der Bewohnerin zum Sitzen und zur Balance gesagte hat bei mir noch nicht absehbare Wirkungen. Ich ahne, daß auch das "Sitzen" eines Wissens mit Sitzbalance verbunden ist.