[b]Selbstbestimmtes Leben – Leben im Wohnheim[/b] Ist dies in einem Pflegeheim überhaupt möglich? Ja, sofern es das Eduard-Knoll-Wohnzentrum in Krautheim betrifft. Dabei sah es für mich am Anfang gar nicht danach aus. Als ich 1992 hier herkam, hatte ich von "Tuten und Blasen" keine Ahnung, war also noch richtig "grün hinter den Ohren", wie man so schön sagt. In dem Internat, in dem ich von 1984 bis 1988 die Wirtschaftsschule absolvierte, wurde der Tagesablauf weitestgehend von Erziehern straff durchorganisiert. Das hieß, morgens um 6 Uhr 30 wecken. Nach der Schule 13 Uhr 30 Einnahme des gemeinsamen Mittagessens, was die allgemeine Gruppenzugehörigkeit symbolisieren sollte. Hatte man keinen Hunger, musste man trotzdem mit am Tisch sitzen. Wenn man weggehen wollte, wurde dies in einem Heft eingetragen. Wer, wie lang, wohin usw. Wer sich nicht ordnungsgemäß abmeldete oder nicht zu den Mahlzeiten erschien, wurde nach einer Abmahnung mit Ausgangssperren bestraft. Nach einigen Wochen "guter Führung" konnten diese je nach Belieben wieder aufgehoben werden. Männliche Besucher waren nur bei geöffneten Türen gestattet, und damit auch ja nichts Ungeheuerliches passierte, gab es den viertelstündigen Kontrollgang. Eine Privatsphäre gab es nicht. Das lässt sich in einem Dreibettzimmer mit ca. 20 Quadratmetern auch sehr schwer realisieren, oder? Ganz zu schweigen von einem eigenen Zimmerschlüssel. Wozu? Abschließen kam sowieso nicht in Frage. Sein Hab und Gut verstaute man in einer Schrankhälfte mit einem Minischließfach und einer größeren Bettkommode mit Schiebetüre. Wer sich nicht an die Regeln der Wohngruppe hielt, ja es sogar wagte, sich dagegen aufzulehnen, bekam psychischen Terror zu spüren. Bis zu sieben Erzieher saßen dann in ihrem Büro, und fingen an, auf einen einzuquatschen. Was, warum? etc. und zwar solange, bis man das, was sie meinten, vermeintlich auch für das Richtige erachtete. Das Beste war es, solche "Gehirnwäschen" einfach stillschweigend über sich ergehen zu lassen, sich rumzudrehen und zu denken "Leck mich...!" Nur für mich als Sensibelchen verdammt schwer umzusetzen. Kurz und gut: Schulisch lief alles prima, doch in den "Wohnknast" würden mich heute keine zehn Pferde mehr hineinbekommen. Als ich 1992 nach Krautheim kam, eröffnete sich mir im wahrsten Sinne des Wortes eine "Neue Welt." In dieser Einrichtung ist es Menschen mit Behinderung, sei es MS, ICP oder Muskeldystrophie trotz ihres persönlichen Handicaps weitestgehend möglich, ein individuelles Leben zu führen. In zweierlei Hinsicht musste ich lernen mit der Freiheit, die dieses Wohnzentrum ausmacht, richtig umzugehen. Die organisatorische wie die emotionale Ebene betreffend. Nun hieß es, in kleinen Schritten meinen Tagesablauf selber zu organisieren und alltägliche Dinge wie einkaufen gehen oder Bankgeschäfte tätigen, eigenständig zu regeln. Was mir ebenfalls besonders schwer fiel, waren mein ungezügeltes Temperament sowie meine oft übertriebenen Emotionen unter Kontrolle zu bekommen, die bei der kleinsten Schwierigkeit einfach mit mir durchgingen. Der, der mir gerade in die Quere kam, bekam sie zu spüren. Entweder war ich himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt. Eine Einstellung, die mich häufig um Kopf und Kragen brachte, und die ich immer zutiefst bedauerte, wenn es schon zu spät war. Selbstbestimmtes Leben, gleichzusetzen mit persönlicher Freiheit, bedeutet eben nicht, sich alles erlauben zu können, sondern in erster Linie mit sich und seinem Umfeld verantwortungsbewusst umzugehen. Mit den Jahren pendelte sich mein Stimmungsbarometer langsam ein, da es nichts bringt, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Doch bis zu dieser Erkenntnis war es ein langer, harter und manchmal sehr steiniger Weg für mich. Rückblickend stelle ich jedoch fest, dass Krautheim das Beste war, was mir je passieren konnte. Hier hatte ich die Chance, erwachsen zu werden. Dass dies leider nicht dem Standard eines Pflegeheims entspricht, konnte ich 1997 im Rahmen eines Probewohnens in einem anderen Haus feststellen. Warum? Ganz einfach. In einem Anflug von Heimweh suchte ich einen Heimplatz in der Nähe meines Elternhauses. Als ich jedoch ähnliche, wie bereits oben geschilderte Verhältnisse, (meist Doppelzimmer – 15 Quadratmeter und typisches Gruppenleben) nur für Erwachsene, vorfand, wollte ich nichts wie raus da! Meine Eltern hatten dafür vollstes Verständnis. Zusammen sind wir schließlich übereingekommen, dass ich nicht ihr Leben lebe, sondern meines. Man stelle sich meine überschwängliche Freude vor als ich wieder zurück "nach Hause"  (Krautheim) kam. Niemand weiß, was die Zukunft uns allen noch so bringt, und natürlich ist auch hier nicht alles "Gold, was glänzt," doch solange ich in einem Heim wohne, wird dies im Eduard-Knoll-Wohnzentrum sein, da ich hier meinen eigenen Lebensweg gefunden habe, wie es anderswo in dieser Form kaum möglich gewesen wäre.